
Inga (40)
Wie bleibst du du selbst, wenn deine Behinderung dich ständig herausfordert, dich anzupassen? Für Inga ein Grundfrage. Sie reflektiert viel über Selbstbestimmung und das Verhältnis zu gesellschaftlichen Normen.
Erste Hörgeräte mit zweieinhalb
Wie bei Inga eine hochgradige Innenohrschwerhörigkeit festgestellt wird, ist sie gerade mal zwei. Ob die Hörschwäche angeboren ist oder auf eine unbehandelte Entzündung zurückgeht, ist unklar. Mit zweieinhalb bekommt sie ihre ersten Hörgeräte. «Schön gross, schön rot, damit man sie auch sieht», scherzt Inga. «Ich wurde also schon früh mit der Frage konfrontiert, was ich denn da hätte?»
Das war in den 1980er Jahren in der Nähe von Köln. Die Eltern bemühen sich um eine bestmögliche Förderung, um Sprachtraining, Heilpädagogik, das ganze Programm.
Eine lange Studienlaufbahn
Nach dem Abitur geht Inga studieren und macht nach drei Jahren den Bachelor im Fach Online-Redaktion. Im Rückblick keine einfache Lebensphase: «Das wird immer unterschätzt. Der Moment, wo du in der Vorlesung sitzt und der Lehrperson das Mikro abgibst, der ist so trivial im Gegensatz zu allem, was vorher oder nachher passiert. Das war schon sehr mühsam. Es ging immer darum, dass man sich irgendwie anpasst, dass man niemandem zur Last fällt, und dass man trotzdem Leistung bringt.»
Richtig fertig fühlt sich die Studienlaufbahn für Inga aber noch nicht an. Sie nimmt ein zweites Studium in Angriff, als Umweltingenieurin an der ZHAW in Wädenswil. Hier ist sie nicht die erste schwerhörige Studentin, der Weg ist schon vorgespurt.
Dennoch ist das Studium voller Herausforderungen: einmal das Schweizerdeutsche, dann die vielen Student:innen, die Praxis im Feld, die Gruppenarbeiten… Diese laufen nicht immer gut. Manchen ist es zu anstrengend, mit Inga zusammenzuarbeiten.
Inga studiert sechs Jahre und gründet nebenbei eine Familie. «Da hatte ich Glück», erinnert sich Inga. «Zu der Zeit gab es eine Krippe am Campus und ich konnte in Teilzeit studieren.»
Berufliche Erfüllung
Über Umwege gelangt Inga zum Theaterhaus Gessnerallee in Zürich und übernimmt schliesslich das Projekt «IntegrART» (heute «disframe»), mit dem das Migros-Kulturprozent inklusive Bühnenkunst fördert. Inga erzählt mit leuchtenden Augen von ihrer Arbeit: «Wir präsentieren selbstbestimmte Bühnenkunst von Menschen mit Behinderungen und/oder chronischen Erkrankungen an verschiedenen Theatern und Festivals in allen Landesteilen der Schweiz.»
Die Bedingungen beim Migros-Kulturprozent sind gut. Vom Umfeld wird die Barrierefreiheit eingefordert und mitgedacht. «Ich habe drei Mikrofone, die in den Meetings herumgegeben werden», erklärt Inga. «Zudem machen wir häufiger Pausen.»
Aber auch die Massnahmen reduzieren nicht den Mehraufwand, den Inga in der Kommunikation zu leisten hat: «Ich merke, dass ich mit meinen Ressourcen limitiert bin. Und ich stehe immer unter dem Druck des ‹Trotzdem›. Ich bin trotz meiner Hörbehinderung leistungsfähig, und will auch zeigen, dass das möglich ist. Aber gleichzeitig will ich die gesellschaftliche Norm ‹Nur wer viel leistet, ist auch viel wert› nicht noch verstärken.»
Wie läuft der Alltag?
Daheim trägt Inga häufig keine Hörgeräte, um sich – bei vier Kindern im Alter zwischen vier und dreizehn Jahren – besser erholen oder konzentrieren zu können. Wichtig ist eine gute Kommunikationskultur in der Familie. Dazu gehören Lichtsignale beim Betreten eines Zimmers, Gespräche immer mit Augenkontakt oder schweigsame Autofahrten bei lauter Musik. «Auch bei uns wird viel durcheinander gesprochen, aber wenn andere Kinder zu Besuch sind, fällt mir schon auf: Die plappern noch viel mehr drein! Unter uns kommunizieren wir deutlich anders.»
Warum kein CI?
Mit ihrem starken Hörverlust ist Inga die perfekte Kandidatin für ein Cochlea-Implantat, doch sie sieht darin ein Stück Identitätsverlust: «Für mich ist ein CI ein Schritt der Adaption. Es geht ja für uns Menschen mit einer Behinderung im Grunde immer um die Anpassung an die Norm. Und das finde ich schade. Mit einem CI müsste ich mich nochmal ganz neu aufstellen. Wer bin ich dann? Nein, ich denke, ich möchte kein CI.»
Bei sich bleiben …
… ist ein Thema, das Inga umtreibt. Sie ist überzeugt, dass Menschen mit einer Schwerhörigkeit eher dazu tendieren, sich selbst nicht so wichtig zu nehmen, um keine Umstände zu machen, als Menschen mit einer sichtbaren Behinderung. «Man möchte nicht unangenehm auffallen», sagt sie. «Und das verführt dazu, schneller zu sagen: ‹Ach, nicht so wichtig, das klappt schon irgendwie›. Doch am Ende sitzt man in irgendwelchen Veranstaltungen, von denen man nichts mitbekommt, und spürt seine Lebenszeit buchstäblich wegtröpfeln… Da müssen wir aufpassen!»

Inga: «Ich merke, dass ich mit meinen Ressourcen limitiert bin. Und ich stehe immer unter dem Druck des ‹Trotzdem›.» – Fotos: Patrick Lüthy für Pro Audito.
Steckbrief
Inga
ist seit Kindheit fast taub.
Sechs Jahre
studierte sie Umweltingenieurin und gründete nebenbei eine Familie.
Beruflich
bringt sie Menschen mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen auf Theater- und Festivalbühnen.
Zuhause
trägt sie oft keine Hörgeräte, um sich erholen oder konzentrieren zu können.
Ingas Lebensfrage
«Wie bleibst du du selbst, wenn deine Behinderung dich ständig herausfordert, dich anzupassen?»
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