Neue Studie von Pro Audito Schweiz: Interview mit dem Autor Theo Hutter

Montag, 03. März 25

Dr. Theo Hutter, Mitglied des Zentralvorstands von Pro Audito Schweiz.

AHV und IV haben in den letzten Jahren über eine Milliarde Franken gespart, auf Kosten von Menschen mit Schwerhörigkeit. Das zeigt eine neue Studie von Pro Audito Vorstandsmitglied Dr. Theo Hutter. Im Interview erklärt er das Sparen und was ihn sonst noch erstaunt hat.

Herr Hutter, worum ging es bei der Studie, die Sie gerade herausgebracht haben?

Der Titel der Studie lautet «Menschen mit Hörgeräten in der Schweiz im Kontext der Hörhilfsmittelfinanzierung durch AHV und IV 2006-2023». Sie untersucht unter anderem, welche Merkmale (Alter, Geschlecht, Haushaltsituation etc.) Personen mit Hörgeräten haben und welche Leistungen sie von AHV und IV erhalten. Diese Leistungen wurden mit der Einführung des Pauschalsystems (siehe Kasten) im Jahr 2011 stark reduziert.

Woher stammen die Daten, auf die sich die Studie stützt?

Hauptsächlich sind es die detaillierten gesamtschweizerischen Hilfsmittel-Rechnungsdaten von AHV und IV der Zentralen Ausgleichsstelle (ZAS) seit dem Jahr 2000, die ich auf Personenebene mit den Bevölkerungsdaten des Bundesamtes für Statistik verknüpfen konnte. Daneben stützte ich mich auf die Daten der schweizerischen Gesundheitsbefragung.

Worum ging es bei der Reform im Jahr 2011?

Die Reform hatte zwei Ziele: Erstens sollten die Hilfsmittelausgaben von IV und AHV gesenkt werden. Zweitens sollte mittels der Pauschalbeträge, die direkt den Betroffenen ausbezahlt werden, der Wettbewerb unter den Anbietern von Hörgeräten erhöht werden, damit die Hörgerätepreise sinken.

Hat das geklappt?

Nur einseitig. AHV und IV sparten tatsächlich massiv, seit dem Jahre 2012 kumuliert über eine Milliarde Franken. Die Hörgerätepreise aber gingen nicht zurück.

Wie wurde gespart?

Einerseits wurden die Beiträge für Hörgeräte stark gekürzt. Andererseits sind die Voraussetzungen zum Erhalt von Beiträgen strenger geworden. Als drittes wurde die einzelfallbezogene ärztliche Qualitätsprüfung der Hörgeräteversorgung gestrichen.

Könnte man also sagen, dass die Menschen mit Schwerhörigkeit die Sparbeträge von AHV und IV getragen haben?

Davon ist mehrheitlich auszugehen.

Reden wir nun über die Folgen der Leistungskürzungen: Was hat sich seit der Einführung des Pauschalsystems geändert?

Nun, wie gesagt, sind die Kosten pro Fall für die AHV und die IV massiv gesunken. Ausserdem ist die Zahl der Personen, die neu Leistungen für Hörgeräte beziehen, anteilsmässig zurückgegangen.

Woran liegt das?

Die im Jahr 2011 neu definierten Anspruchsschwellen für Hörgerätebeiträge liegen höher. Der subjektive Leidensdruck, der vorher (fast) ausreichte, um Beiträge zu erhalten, wird nicht mehr berücksichtigt. Zudem ist davon auszugehen, dass ein Teil der einkommensschwachen Personen mit Hörproblemen auf die Anschaffung von Hörgeräten verzichtet, weil die selbst zu tragenden Kosten zu hoch sind.

Keine gute Entwicklung also ….

Aus Sicht der Betroffenen und auch der Gesellschaft, nein. Es ist unbestritten, dass eine zu späte Hörgeräteversorgung ungünstige gesundheitliche und soziale Folgen hat. Und die Gesellschaft trägt zum Beispiel Krankheitskosten mit. Interessant sind in diesem Zusammenhang die Studienergebnisse zur Frage, wie viele Menschen keine Hörgeräte haben, auch wenn sie subjektiv wahrnehmen, dass sie mindestens leichte Schwierigkeiten in der Alltagskommunikation haben. Besonders hoch ist der Anteil bei den 50-64-Jährigen, drei von fünf haben kein Hörgerät.

Welches andere Studienergebnis hat Sie am meisten überrascht?
Ich habe mit einer Simulationsrechnung geprüft, welche Zusatzkosten für die AHV und IV anfallen würden, wenn alle Menschen mit Hörgeräten Beiträge erhalten würden. Die geschätzten Zusatzkosten bewegen sich etwa im Rahmen des Betrags, den die Versicherungen für die Abklärung der Beitragsberechtigung aufwenden. Das hat mich verblüfft.

Wie neutral ist die Studie – Sie sind ja schliesslich selbst Cochlea-Implantat-Träger und im Vorstand von Pro Audito Schweiz?
Die Studie steht unter einem wissenschaftlichen Stern. Ich erstellte sie im Stile der öffentlichen Statistik, für die ich 25 Jahre lang als Kantonsstatistiker tätig war und deren Auftrag es ist, neutrale Informationsgrundlagen für alle Interessierten bereit zu stellen. Die Studie enthält deshalb auch keine Bewertungen oder Handlungsempfehlungen. 

Bei der Auswahl der Untersuchungsfragen ist auch in der Wissenschaft niemand neutral beziehungsweise frei von Eigeninteressen. Da ich ein Cochlea-Implantat habe, interessierte es mich zum Beispiel persönlich, endlich herauszufinden, wie viele Menschen mit solchen Implantaten es in der Schweiz gibt. Und ich freue mich, dass mir dies gelungen ist. Gemäss meinen Berechnungen waren es Anfang 2024 rund 3050 Personen.

Lesen Sie hier auch die Medienmitteilung von Pro Audito Schweiz: Medienmitteilung – Pro Audito veröffentlicht neue Studie

Pauschalsystem

Seit dem 1. Juli 2011 vergüten die IV und die AHV Hörgeräte für Erwachsene mit einem fixen Pauschalbetrag, der der versicherten Person direkt ausbezahlt wird. Die Eintritts-Hörschwelle – also der Hörverlust, ab dem eine schwerhörige Person von den Sozialversicherungen eine Zuzahlung zum Hörgerät bekommt – liegt bei einem Gesamthörverlust von 20 (IV) bzw. 35 Prozent (AHV). Vor 2011 galt ein System mit abgestuften Tarifen, die mit der Hörgerätebranche ausgehandelt wurden und bei dem die IV direkt mit den Abgabestellen abrechnete.

 

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