Vanessa (28)
Vanessa geht 12-jährig zum ersten Hörtest: Das linke Ohr ist so gut wie taub, wahrscheinlich seit Geburt. Etliche Jahre vergehen, bis Vanessa ihr Hörgerät auch tatsächlich trägt. Dazu brauchte es einen «Weckruf»: einen Hörsturz.
1999 wurde in der Schweiz flächendeckend das Neugeborenen-Hörscreening eingeführt. Zu spät für Vanessa. Sie ahnte schon immer, dass etwas nicht stimmt. «Ich habe oft Sachen falsch verstanden oder gar nicht reagiert, wenn ich gerufen wurde.» Und in der Schule hatte sie grosse Mühe mit Diktaten. «Also kam ich dann Legasthenie-Unterricht.» Keine Lösung für Vanessas Problem!
Die bringt erst ein Zufall: die 12-jährige Vanessa hört im Auto Musik und findet, dass der linke Kopfhörer nicht funktioniere. Sie tauscht ihn aus und stellt fest: «Es ist nicht der Kopfhörer, es ist das Ohr, das nicht funktioniert.» Ein Hörtest bestätigt einen fast vollständigen Hörverlust auf dem linken Ohr. Vanessa braucht ein Hörgerät, aber als Teenagerin hat sie damit ein Problem. «Mir war das peinlich.» Also landet das Hörgerät in der Schublade.
Vanessa beisst sich durch die Schule: «In den technischen Fächern, Mathe und Geometrie war ich immer sehr gut. Das hat mich gerettet.» Nach dem Abschluss sucht sie eine Lehrstelle, wo sie wenig mit Menschen zu tun hat. Nach erfolgloser Suche landet sie da, wo sie nie hinwollte: im Verkauf – was das Hörgerät alternativlos macht: «Es war mir zwar immer noch peinlich, aber es war eine riesige Erleichterung. Ich konnte keine Kunden verstehen und beraten, während daneben andere Kundengespräche liefen.»
Vanessa macht den Abschluss als Detailhandelsfachfrau und steigt mit Mitte zwanzig zur stellvertretenden Geschäftsleiterin auf. Ein Erfolg, der ihr schmeichelt. Aber auch eine Verantwortung, die sie – bewusst oder unbewusst – in Stress versetzt.
«Weckruf» Hörsturz
Wie Vanessa vor gut einem Jahr nach Hause fährt, hört sie plötzlich ein lautes Geräusch: «So ein blödes Brummen. Ich dachte zuerst, das Auto sei kaputt.» Das Brummen, so zeigt sich beim Aussteigen, hat nichts mit Motor oder Vergaser zu tun. Der rasch aufgesuchte Ohrenarzt diagnostiziert einen Hörsturz mit Hörverlust am rechten – Vanessas gutem – Ohr, sowie einen akuten Tinnitus. Er behandelt mit Kortison und Blutverdünnern und nach ein paar Tagen verschwindet zumindest das Ohrgeräusch.
Weniger gut entwickelt sich der Hörverlust. Als das Gehör auch nach über einer Woche nicht zurückkommt, werden die Ärzte skeptisch. Vanessa geht trotzdem weiter zur Arbeit. Sie will das in sie gesetzte Vertrauen nicht enttäuschen. Nach zwei Monaten zeigt der Hörtest zum Glück, dass ein Restgehör von 80% geblieben ist. «Da habe ich richtig Glück gehabt», weiss Vanessa. Sie zieht ihre Konsequenz und gibt die Stelle als StV wieder auf.
Endlich: «Ein Hörgerät ist okay»
In ihrem gemütlichen «Mädchenzimmer» in einem alten Bauernhaus blickt Vanessa zurück auf die schlimmen Wochen: «Der Hörsturz war einschneidend. Ich habe mich so ausgeliefert gefühlt, wie noch nie. Das hat mich geweckt.» Vor dem Hörsturz hat sie am liebsten gar nicht über ihr Hörproblem geredet. Als sie glaubt, ihr Gehör nun ganz verloren zu haben, erkennt sie: «Ein Hörgerät ist okay. Es könnte viel schlimmer sein.»
Also lernt Vanessa, selbstbewusst zu ihrem Hörproblem zu stehen, und merkt schnell: Wenn es die Leute wissen, dann ist alles viel einfacher. Kunden, die im Geschäft mit ihr reden, ohne sie dabei anzusehen, weist sie freundlich, aber bestimmt auf die Situation hin.
Lippenlesen, Fingeralphabet, Gebärdensprache
Und noch etwas: Vaness beginnt, sich mit Ihrer Schwerhörigkeit und dem möglichen «Ernstfall» eines vollständigen Gehörverlustes auseinanderzusetzen. Sie besucht ein Hörtraining bei Pro Audito: «Ich lerne Lippenlesen. Ich möchte sicher sein, dass ich mir zu helfen weiss, wenn mich noch einmal ein Hörsturz erwischt. Ich will nicht abgeschnitten sein von der Welt. Das ist mein Albtraum!»
Neben dem Lippenlesen lernt sie im Hörtraining auch das Fingeralphabet kennen – eine weitere Möglichkeit, sich zu verständigen, wenn sonst nichts mehr geht. «Das hat mich darauf gebracht, mich auch in Gebärdensprache fit zu machen.» Zusammen mit ihrer Mutter lernt Vanessa die neuen «Geheimzeichen» und findet daran sogar Spass.
Ein Tattoo hinterm Hörgerät
Vanessa wohnt in einer WG mit einer ebenfalls schwerhörigen Mitbewohnerin. «Sie ist 60 Jahre alt, aber es passt. Wir haben zum Beispiel beide nichts dagegen, wenn die andere den Fernseher mal lauter dreht.» Vanessa ist auch mutiger geworden und hat sich kürzlich ein Tattoo stechen lassen, am linken Ohr, direkt hinter dem Hörgerät. «Eigentlich wollte ich ein buntes Hörgerät. Aber jetzt habe ich das Tattoo. So hat jeder etwas Schönes zum Anschauen», sagt sie. «Und ich fühle mich gut, weil ich mein Hörproblem nicht mehr länger verstecke.»
Steckbrief
Vanessa
entdeckt im Alter von 12 Jahren, dass sie auf dem linken Ohr so gut wie taub ist. Mitte zwanzig erleidet sie auf dem rechten Ohr einen Hörsturz.
Zuhause
ist Vanessa in einer Bauernhaus-WG mit einer ebenfalls schwerhörigen 60-jährigen Mitbewohnerin.
Beruflich
ist Vanessa als Detailshandelsfachfrau glücklich.
Entspannen
kann sich Vanessa im Garten und mit ihren Haustieren. Zudem spielt Vanessa Harfe und liest gerne.
Vanesse sagt:
«Der Hörsturz war einschneidend. Ich habe mich so ausgeliefert gefühlt wie noch nie. Das hat mich geweckt.»
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