
Ingrid (75)
Mit drei Jahren erkrankte Ingrid schwer: ein kleiner Sarg stand schon bereit. Wie durch ein Wunder überlebte sie – aber ohne Gehör. Mit viel Mut, Lebensfreude und einem sechsten Sinn meistert die heute 75-jährige CI-Trägerin ihr Leben.
«Geht es Ihnen gut?», fragt mich Ingrid und fügt lächelnd hinzu: «Wenn Sie mir jetzt die Hand geben, merke ich, ob die Antwort stimmt.» Tatsächlich hat die charismatische Naturheilärztin so etwas wie einen sechsten Sinn, mit dem sie gleichsam in andere hineinhören kann. «Hineinhören» ist allerdings nicht wörtlich zu nehmen, denn Ingrid ist seit ihrem dritten Lebensjahr fast vollkommen taub.
Drei Wunder
Zerbombtes München, 1946: Ingrid fällt mit einer Hirnhautentzündung ins Koma. Im Nachkriegsdeutschland wird sie als ein hoffnungsloser Fall gar nicht erst ins Krankenhaus aufgenommen, Antibiotika kann auch ihre Mutter, eine Krankenschwester, nicht für sie organisieren. Doch nach zehn Tagen geschieht das erste Wunder: Ingrid erwacht aus dem Koma. Allerdings nicht ohne Spuren: Die Dreijährige ist gelähmt und kann nicht mehr hören.
Bei Wunder Nummer zwei hilft Mutter Maria nach Kräften nach: Über Jahre fährt sie mit ihrer kranken Tochter zu einem Magnetopathen nach Lindau. Mit fünf Jahren überwindet Ingrid ihre Lähmung und kann wieder gehen.
Ein drittes Wunder passiert in der Schulzeit: Ingrid hat Ablesen und sogar Sprechen gelernt, sie besucht eine Schule für schwerhörige Kinder. Verstehen und Wiederholen ist für sie kein Problem, aber umsetzen kann sie das Verstandene nicht. Zu ihrem Glück lässt man sie einfach «zuhören». Und mit neun Jahren geschieht das dritte Wunder: Ingrid schafft über Nacht die Verknüpfung und kann plötzlich Anweisungen wie «Öffnet das Buch auf Seite 7» folgen.
Lehrjahre
Als ihre Mutter selbst längerer Zeit ins Krankenhaus muss, wird Ingrid in einem Kloster untergebracht. Dort lebt sie fortan mit Kriegswaisen, bis sie mit 14 Jahren den Schulabschluss schafft. Die anschliessende Lehre als Hochbauzeichnerin macht sie an der Berufsschule in München – als Ertaubte unter normal Hörenden. «Das war nicht einfach», erinnert sich Ingrid, «aber zum Glück hatte ich Steno gelernt und konnte vieles mitschreiben.»

Fotos: Patrick Lüthy für Pro Audito Schweiz.
Mit dem Lehrabschluss in der Tasche zog Ingrid nach Basel, wo sie in einem Architekturbüro unterkam. Eine berufliche Reise führt sie 26-jährig nach Wien, wo sie bei einem Akupunktur-Vortrag an der Volkshochschule für Schwerhörige Dr. Otto Ludwig kennenlernt. Er beschäftigt sie zwei Jahre lang als seine Praxisgehilfin.
Die Heirat und die Geburt zweier Kinder lassen den Beruf eine Zeit lang in den Hintergrund treten. Zurück in der Schweiz, lernt sie den Onkel ihres Mannes kennen, der eine Nachfolge für seine Naturarztpraxis in Liestal sucht. Ingrid meldet sich am Heilpraktiker-Kolleg in München an. Mit viel Organisationstalent gelingt die dreijährige Ausbildung, und Ingrid verwirklicht schliesslich ihren Traum von der eigenen Naturheilpraxis.
Das Leben meistern und geniessen
Chancen ergreifen, das war immer Ingrids Devise: Als ihr die Umstellung vom analogen Hörgerät auf die digitale Technik Probleme bereitet, lässt sie sich von Hans-Jörg Studer von der Pro Audito Fachkommission Cochlea-Implantat von den Vorteilen eines CI überzeugen. Mit dem CI hört Ingrid heute so viel, dass sie mit Bekannten sogar telefonieren kann. Auch Musik erlebt sie nun ganz anders. Im Dialog bleibt das Ablesen aber weiterhin zentral.
Ingrid geniesst ein Leben, mit dem manche andere gehadert hätten. «Freude ist immer mein Antrieb, etwas zu tun – auch wenn es schwierig ist. Die Freude lässt mich vieles schaffen, sie gibt mir Energie. Ich glaube fest daran: Sich selbst Freude machen, das kann man immer – auch wenn das Schicksal es mal nicht so gut mit einem meint.»
Genau das vermittelt Ingrid ihren Patienten. Viele kommen nach einer langen Ärzte-Odyssee zu ihr. Auch Ingrid kann nicht jedem helfen. Aber sie hat ein feines Gespür entwickelt, das sie für ihre Patienten einsetzt. Dieser sechste Sinn ist ihre Stärke – geboren aus der vermeintlichen Schwäche der frühen Ertaubung. Ein Wunder? Wohl eher nicht. Ein Beispiel, das Mut macht? Unbedingt.
Steckbrief
Ingrid
ertaubte mit drei Jahren. Sie lernte Lippenlesen und Sprechen. Heute ist sie glücklich mit ihrem CI.
Zuhause
ist Ingrid in Liestal. Sie hat zwei Töchter.
Beruflich
hat Ingrid ihre Berufung gefunden: Als Naturheilärztin hilft sie ihren – oft verzweifelten – PatientInnen.
Auf Reisen
hat Ingrid viele Erfahrungen gesammelt. Sie kennt Menschen in aller Welt.
Lebensmotto
«Sich selbst Freude machen kann jeder. Auch wenn es das Schicksal mal nicht so gut mit einem meint.»
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