Gedränge im Bahnhof? Gleisänderungen über Lautsprecher? Oder der hindernisfrei zugängliche Zug ist wieder einmal ausgefallen?
Der ÖV in der Schweiz ist für Menschen mit Behinderung noch immer eine Herausforderung.
Dabei sollte er bis Ende Jahr komplett barrierefrei sein. So wollte es der Gesetzgeber; so steht es im Behindertengleichstellungsgesetz des Bundes (BehiG). Das Gesetz war am 1. Januar 2004 mit einer Umsetzungsfrist von zwanzig Jahren in Kraft getreten.
Heute weiss man: Kaum ein Transportunternehmen wird die Umsetzungsfrist einhalten. Am härtesten trifft es Menschen im Rollstuhl: Die Zugänge zu den Perrons sowie deren Höhe erschweren in vielen Bahnhöfen den selbständigen Einstieg in den Zug. Aber auch Menschen mit einer Sehbehinderung oder Schwerhörigkeit sind betroffen.
Umsetzung verschlafen
Die Verzögerungen sind ein Ärgernis. Deutliche Worte findet Dr. iur. Caroline Hess-Klein von Inclusion Handicap: «Laut Gesetz muss der Bahnverkehr für Menschen mit Behinderungen autonom zugänglich sein. Und zwar bis Ende 2023. Dies wird nicht der Fall sein, weil es die Transportunternehmen verschlafen haben, frühzeitig mit der Planung und Umsetzung der nötigen Anpassungen zu beginnen.»
Das sagen die SBB
Die SBB machen «Finanzierung, Repriorisierungen und Verzögerungen in den Plangenehmigungsverfahren» für die schleppende Umsetzung verantwortlich und dass das Ganze «komplexer» sei als angenommen.
Die SBB beim Wort nehmen
Die SBB versprechen, bis Ende Jahr 434 von 764 Bahnhöfen barrierefrei umzubauen. Die Behindertenverbände werden diese Angaben im Auge behalten und die SBB beim Wort nehmen. Gleiches gilt für die Ankündigung der SBB, an Bahnhöfen, die mobilitätseingeschränkten Bahnreisenden Hindernisse in den Weg legen, vorübergehende Ersatzmassnahmen anzubieten wie zum Beispiel die Hilfestellung durch Personal beim Ein- und Aussteigen. Die Behindertenverbände werden auf den provisorischen Charakter dieser Massnahmen pochen, weiss man doch: C’est le provisoire qui dure.
Reisen im Rollstuhl
Zugute halten muss man den SBB, dass auf den meisten Fernverbindungen mindestens ein autonom barrierefrei benutzbarer Zug pro Stunde und Richtung verkehrt. Allerdings erschweren noch immer zu viele Einschränkungen die Reiseplanung. Besser sieht es im Regionalverkehr aus: Bereits heute sind praktisch alle Züge barrierefrei zugänglich.
Lese-Funktion für Lautsprecher-Durchsagen
Grundsätzlich zu begrüssen ist eine neue Lese-Funktion in der App «SBB Inclusive» (ab Version 1.0.12, wir haben berichtet). Sie gibt alle Lautsprecher-Durchsagen eines Bahnhofs pro Perron und Gleis in Echtzeit in schriftlicher Form wieder. Ob sich diese Lese-Funktion bewährt, muss sich aber erst noch weisen.
Was ist Ihre Meinung?
So oder so wird das Jahr 2023 nicht die gesetzlich verlangte Barrierefreiheit im ÖV bringen. Das ist bedauerlich. Möchten Sie zum Thema ÖV persönliche Erfahrungen oder Meinungen teilen? Monika Hänni freut sich auf Ihre Rückmeldung: monika.haenni@pro-audito.ch