Kolumne: Helga Velroyen über Tinnitus und einen brillanten Mathematiker

Montag, 08. Januar 24

Unsere Dezibel-Kolumnistin Helga Velroyen schreibt in der jüngsten Dezibel Ausgabe über ihren Tinnitus und wie ein brillanter Mathematiker ihr half, einen Umgang damit zu finden.

Helga Velroyen schreibt als Kolumnistin für das Pro Audito Magazin „Dezibel“.

Seit 15 Jahren begleitet mich mein Tinnitus – eine Kakofonie aus hohen Fiep-Tönen. Ich habe alles versucht, um ihn loszuwerden. Meine Erkenntnis: Wir Menschen können zum Mond fliegen, aber keinen Tinnitus heilen. 

Ich war frustriert. Ich fluchte. Ich schrie den Tinnitus an, ich versuchte, ihn mit Heavy-Metal- Musik zu übertönen oder ihn ganz hart wegzudenken. Er war immer da und er quatschte ununterbrochen in meine Gedanken hinein. Und er hatte immer den längeren Atem.

In dieser Zeit schaute ich zufällig den Film «A Beautiful Mind». Spoiler-Warnung: Lesen Sie nicht weiter, wenn Sie den Film noch schauen möchten!

«A Beautiful Mind» handelt von einem brillanten Mathematiker namens John Nash. Nash ist schizophren und sieht Menschen, die nicht da sind. Ich bin weder eine brillante Mathematikerin, noch sehe ich Menschen, die nicht da sind. Und trotzdem gibt es eine Parallele: Im Film streitet sich Nash mit seinen imaginären Mitmenschen genauso wie ich mit meinem Tinnitus. Er schreit sie an und diskutiert und dennoch lassen sie sich nicht vertreiben. Nash wird nicht von diesem Symptom seiner Krankheit befreit. Stattdessen lernt er, mit seinen imaginären Mitmenschen umzugehen – indem er sie höflich ignoriert. Er nickt ihnen morgens freundlich zu, aber er schenkt ihnen keine Aufmerksamkeit. Er sieht sie noch, aber lässt sie unbeachtet in der Ecke stehen. Eine geniale Lösung, oder?

Und das klappt auch mit meinem Tinnitus: Er ist immer noch so laut und so schrill wie zu Beginn. Aber ich habe gelernt, ihn zu ignorieren. Geholfen haben dabei meine Hörgeräte. Sie verstärken die Geräusche meiner Umgebung und dadurch treten die Geräusche meines Gehirns in den Hintergrund. Seither fokussiere ich mich auf das, was meine echten Sinne mir mitteilen. So kann ich das Leben wieder geniessen, anstatt es von meinem Tinnitus bestimmen zu lassen.

Nur abends, wenn ich mich ohne Hörgeräte ins Bett lege, nehme ich den Tinnitus kurz wahr.
Ich nicke ihm dann höflich zu und kuschele mich in die Kissen.

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Wer ist Helga Velroyen?

Das bin ich, Helga. Ich bin Ende 30, verheiratet und wohne in München. Ich bin schwerhörig und seit 2008 Hörgeräteträgerin. Als ich meine ersten Hörgeräte bekam, habe ich viele Dinge übers Hören und die Geräte nicht gewusst, die ich im Nachhinein gerne gewusst hätte. Damit es anderen nicht so geht wie mir damals, habe ich einen Blog (www.doofe-ohren.de) ins Leben gerufen und schreibe als Kolumnistin für das Magazin Dezibel von Pro Audito. In meinem „richtigen“ Leben bin ich Software-Entwicklerin bei Google.

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