Kolumne: Hans Schneeberger schreibt: „Jetzt stell dich doch nicht so an!“

Montag, 02. Oktober 23

Stellen Sie sich vor, Sie sind mit einer Person, die im Rollstuhl sitzt, am Bahnhof. Sie steigen die Treppe runter, aber die Person im Rollstuhl steht immer noch oben. Sie rufen: «Jetzt stell dich nicht an! Komm endlich runter!»

Würde Ihnen nie in den Sinn kommen, oder? Logisch. Einer Person im Rollstuhl sieht man ihre Behinderung an. Man würde sie nie anblaffen, blossstellen oder lächerlich machen. Bei Schwerhörigen ist das schon heikler. Denn Schwerhörigkeit sieht man nicht.

Ich bin immer wieder Situationen ausgesetzt, in denen man entnervt zur Kenntnis nimmt, dass ich was verpasst habe. Sogar mir nahestehende Personen reagieren manchmal enerviert, wenn sie merken, ich habe wieder was falsch verstanden oder habe überhaupt nicht zugehört: «Hans, jetzt pass doch mal auf!» Können vor Lachen … Ganz ärgerlich wird es, wenn ich vorgeführt und der Lächerlichkeit ausgesetzt werde. «Ach, der Hans hat wieder mal kein Wort mitgekriegt. Na, da wollen wir das doch mal gaaanz langsam wiederholen.» Da kann ich dann schon mal gaaanz schnell ausrasten.

Die Situation ist perfide. Kein Mensch würde erwarten, dass ein Rollstuhlfahrer dank einem ultramodernen Rollstuhl die Bahnhoftreppe runterfräst. Sieht man ja, dass der Rollstuhl dafür nicht gemacht ist – man kann damit viel, aber nicht alles. Wieso also wird von mir als Hörgeräte-Träger
erwartet, dass ich dank der Unterstützung durch meine Hörgeräte alles verstehe? Obwohl ich ständig darauf aufmerksam mache, dass ich zwar mit Hörgeräten besser, aber ganz sicher nicht alles höre? Wohlverstanden: Es geht mir nicht darum, Behinderungen gegeneinander auszuspielen. Sondern zu versuchen, Schwerhörigkeit sichtbarer zu machen. Denn nur Sichtbarkeit schafft unmittelbares Verständnis.

Ich habe mir schon überlegt, bei gesellschaftlichen Anlässen ein Plakat um den Hals zu tragen: «Wenn Sie mit mir sprechen, schauen Sie mich an und sprechen Sie langsam und deutlich.» Aber eben: Dann behandeln mich alle wieder wie einen leicht debilen Behinderten. Da verstehe ich dann doch lieber nur die Hälfte. Und überbrücke den Rest mit Floskeln. «Ja klar, das verstehe ich…» «Was du nicht sagst! Das glaub ich ja nicht!»

Haben wir Menschen mit Schwerhörigkeit doch drauf: Mitreden, ohne was verstanden zu haben…

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Wer ist Hans Schneeberger? 

Hans Schneeberger war 14 Jahre Chefredaktor des Migros-Magazins, ist heute frühpensioniert, Weinautor und lebt in Aarau. Er trägt seit über 20 Jahren Hörgeräte und schreibt als Kolumnist für das Pro Audito Magazin Dezibel.

 

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