Am Kongress der Europäischen Union der Hörakustiker (EUHA) treffen sich jedes Jahr Hörsystemhersteller, Akustiker, Organisationen und andere Interessierte, um sich auf ihrem Fachgebiet auszutauschen oder Neuerungen vorzustellen. Pro Audito Schweiz war vor Ort und hat der Branche den Puls gefühlt.
Das grosse Blaue
Anfang des Jahres begann das Thema Bluetooth Auracast, so richtig Fahrt aufzunehmen. Die ersten Reaktionen waren gemischt. Von hoffnungsvoll über vorsichtig bis zu klar ablehnend war alles dabei. Auch auf Seiten der Hörsystemhersteller schien nicht sicher, ob man sich ins kühle Nass namens Auracast wagen will. Einige Hersteller hielten vorsichtig die Füsse hinein, andere bestellten lieber noch eine Portion Badi-Pommes und warteten ab, ob nicht doch noch ein Hai auftaucht.
Im Oktober hat sich die Situation gründlich verändert. Zwar ist im Wasser noch wenig Betrieb, es planschen aber bereits einige Hersteller vergnügt im seichten Wasser in Ufernähe herum. Und noch viel wichtiger: Alle grossen Hersteller haben mittlerweile die Badehosen angezogen.
Pro Audito Schweiz hat mit Vertretern diverser Hörsystemhersteller gesprochen und nachgefragt, wie sie zu Bluetooth Auracast stehen. Die Antwort kam fast unisono: «Bluetooth Auracast ist die Zukunft». Alle neuen Hörsysteme, die mit Bluetooth ausgerüstet werden, sind ab sofort Auracast-ready. Das heisst: Der benötigte Bluetooth-Chip ist verbaut und muss nur noch per Software aktiviert werden. Die Badehosen sind montiert und der Sprung ins Wasser nur noch eine Frage der Zeit.

Chuck Sabin (re) von der Bluetooth-SIG unterhält sich mit Beat Graf von Pro Audito.
Nur ein Hersteller hat Auracast bereits aktiviert
Wann dieser Sprung passiert, ist hingegen noch unklar. Kein Hersteller will sich in die Karten blicken lassen. Jeder lässt allerdings durchscheinen, dass es hinter den Kulissen noch ein wenig zu tun gibt. Softwareentwicklung beispielsweise, oder Tests. Man wirft ausserdem ein Auge auf die Konkurrenz und wartet ab, was sich dort so tut.
Besondere Aufmerksamkeit erhielten entsprechend GN ReSound, die als einzige grosse Hersteller schon heute voll auf Bluetooth Auracast setzen. Der Chip ist in allen Modellen der neuen Nexia-Serie verbaut und aktiviert. Zusammen mit einigen Zubehörteilen (u. A. ein TV-Streamer und ein Anheft-Mikrofon) kann Auracast hier schon im Alltag verwendet werden. Das ist vor allem spannend für Early-Adopter, die gerne an der Speerspitze der Technologie dabei sind, und dann auch damit leben können, dass nicht immer alles perfekt funktioniert.
Worüber wir uns besonders gefreut haben: Alle von uns befragten Hersteller wollen Auracast nicht zur Kostenfrage werden lassen. Die Technologie soll in alle neuen Hörgeräte kommen, egal ob Einsteiger- oder Spitzenmodell. Das ebnet den Weg für Auracast als wahren Übertragungsstandard, der allen zugutekommt.

Aktiv sind die Bluetooth-Chips derzeit nur bei GN ReSound.
Schlagwort «Künstliche Intelligenz»
Nein, die KI-Welle macht auch vor Hörgeräten keinen Halt. Neben Auracast war Künstliche Intelligenz das zweite grosse Thema am EUHA-Kongress 2024. Mit aufwändigen Sound-Demos versuchten die Hersteller, auf die Vorzüge der eigenen KI-Systeme aufmerksam zu machen. Dem Andrang in den Demo-Räumen nach zu urteilen, gelang das bestens. Und: in den Demos sind die Ergebnisse beeindruckend.
Im Bereich der Hörgeräte wird KI vor allem zur Erkennung von Geräuschen verwendet. Anhand dieser Informationen werden dann relevante Geräusche wie Stimmen oder Musik verstärkt, während Störgeräusche unterdrückt werden. Das funktioniert im akribisch zusammengestellten Demo-Raum bestens. Allerdings ist es fast unmöglich, daraus Schlüsse auf den Praxisnutzen zu ziehen. In der echten Welt sind die Situationen oft komplex und unkontrolliert. Dort setzt die KI längst nicht immer den richtigen Fokus. Das kennt man heute schon von Hörgeräten, aber auch etwa beim Smartphone, das bei einem Anruf aus dem Zug die Durchsagen prioritär durchlässt, da eine Stimme erkannt wird. Wie gut die neuste Generation der Hörgeräte-KI also wirklich wird, kann nur ein Praxistest zeigen.

Künstliche Intelligenz ist bei Hörgeräten nicht neu, aber ein grösseres Thema als auch schon.
Beat Graf klärt auf
Am Freitag stand Pro Audito Schweiz dann selbst auf der Bühne. Unser Höranlagen-Experte Beat Graf erzählte in seinem Vortrag von den neusten Erkenntnissen rund um Bluetooth Auracast. Dezibel-Leser:innen wissen da natürlich bereits Bescheid. Die Ergebnisse unseres Tests mit der ETH Zürich konnten Sie bereits in der Sommer-Ausgabe (2/24) lesen.
Damals lautete der Tenor: Gut, aber noch nicht ausgereift. Die vielen Vorteile von Auracast wurden von den Testproband:innen als solche wahrgenommen, Nachteile bei Latenz (höher) oder der Bedienung (komplizierter) verhinderten aber eine komplett positive Rückmeldung.
Gut ein halbes Jahr später wurden einige Schritte vorwärts gemacht, allerdings noch keine grossen Sprünge. Es gibt ein paar Geräte mehr, die den Standard verwenden, und viele mehr, die hardwaretechnisch dafür bereit sind. Die grössten Negativ-Ausreisser in Sachen Latenz scheinen behoben, es bleibt aber, was die Zeitverzögerung angeht, noch Luft nach oben, respektive zahlenmässig nach unten. Bei der Bedienung dreht sich noch immer alles um das Smartphone, was für die meisten, aber eben nicht alle, Benutzer:innen kein Problem ist. Auch besteht scheinbar noch Uneinigkeit darüber, wie die Bedienung am praktikabelsten ist. Einige Geräte setzen auf eigene Apps, andere nutzen Bordmittel des Smartphones, was verwirrend sein kann.
Beats Vortrag stiess auf grosse Resonanz. Wir wurden im Verlauf des Tages mehrfach auf dem Messegelände darauf angesprochen, woraus weitere spannende Gespräche entstanden. Das zeigt auch, dass die Diskussion um das Thema Auracast die Menschen in der Branche bewegt. Es gibt noch viel zu klären, aber auch viel Optimismus für eine vielversprechende Technologie.

Beat Graf von Pro Audito Schweiz bei seinem Vortrag zu Bluetooth Auracast.
Wie also weiter?
Ideen für bessere Auracast-Produkte sind vorhanden, Umsetzungen aber noch kaum. Es dürfte noch einige Monate dauern, bis die ersten Produkte auf dem Markt landen, und dann noch einige weitere Monate, bis sich herauskristallisiert, was in der Praxis wirklich funktioniert. Das ist nicht verwunderlich und bei praktisch jeder neuen Technologie so. Realistisch gesehen wird sich die Technologie in den nächsten Jahren einpendeln und dann, mit zunehmend gefestigten Anlagen, immer langsamer verändern und entwickeln. Das Wichtigste: Die neuen Hörgeräte sind bereit dafür.
Wir sind es ebenfalls. Mit Beat Graf haben wir einen führenden Auracast-Experten in unseren Reihen und haben bereits mehrere Anlässe zum Thema durchgeführt. Weitere Anlässe sowie ein ausführliches F&A auf unserer Webseite sind in Arbeit. Um stets über die neusten Entwicklungen zum Thema Auracast informiert zu sein, melden Sie sich hier an: Veranstaltungen zu Auracast.