Im Jahr 2024 ist das Thema Schwerhörigkeit in unserem Land vor allem eins: Unterschätzt. Wo müssen wir ansetzen, damit das besser wird? Heike Zimmermann und Jolanda Galbier, Co-Geschäftsleiter:innen von Pro Audito, geben einen kritischen Überblick.
Sie sind jetzt seit vier Jahren in der Geschäftsleitung bei Pro Audito Schweiz. Was war das wichtigste «learning»?
Jolanda Galbier: Den meisten Menschen ist nicht klar, wie wichtig das Hören und vor allem das VERSTEHEN für unseren Alltag, die soziale Teilhabe und unser psychisches und physisches Wohlbefinden ist.
Heike Zimmermann: Und neben dem grossen individuellen Leid, verursacht Schwerhörigkeit auch enorme Kosten für die Gesellschaft – also im Prinzip für jeden und jede einzelne von uns. Es macht also nicht nur aus gesundheitspolitischer Sicht Sinn, einen besseren Umgang mit dem Thema Schwerhörigkeit zu finden, sondern auch wirtschaftlich.
Welche Ansätze sehen Sie, um die Situation zu verbessern?
Jolanda Galbier: Der wichtigste Hebel ist aus unserer Sicht die Versorgung mit Hörgeräten. Viele Probleme entstehen erst, weil betroffene Menschen zu lange warten, bis sie sich mit einem Hörgerät versorgen – im Durchschnitt sind das sieben Jahre.
Heike Zimmermann: Ausserdem gibt es auch politische Gründe, warum die Versorgung mit Hörgeräten nicht optimal ist.
…das müssen Sie erklären…
Heike Zimmermann: Im Moment liegt die Eintritts-Hörschwelle – also der Hörverlust, ab dem eine schwerhörige Person von den Sozialversicherungen eine Zuzahlung zum Hörgerät bekommt – bei einem Gesamthörverlust von 20 (IV) bzw. 35 Prozent (AHV). Diese Schwellen sind – vor allem im AHV-Alter – sehr hoch angesetzt. Die Menschen bekommen, vor allem wenn sie pensioniert sind, erst dann finanzielle Unterstützung für ein Hörgerät, wenn sie bereits sehr schlecht hören. Dabei ist medizinisch klar belegt, wie wichtig die Früherkennung und Versorgung bei Schwerhörigkeit ist. Es würde sicher Sinn ergeben, die Eintritts-Hörschwelle an medizinische Kriterien zu koppeln und entsprechend zu senken.
…was wiederum Mehrkosten für die Sozialversicherungen generieren würde…
Jolanda Galbier: Das stimmt. Aber diese Kosten wären geringer, im Vergleich zu den bereits erwähnten Folgekosten, die unversorgte Schwerhörigkeit für die Gesellschaft nach sich zieht. Es ist bekannt, dass die IV sparen muss. Wenn aber Sparen nach hinten raus Mehrkosten generiert, muss nach neuen Lösungen gesucht werden. Wir fragen uns da: Kann die IV mehr leisten? Oder gibt es noch andere Akteure, die hier in die Pflicht genommen werden können?
Wie könnte man noch erreichen, dass schwerhörige Menschen besser versorgt sind?
Heike Zimmermann: Indem man zum Beispiel die Pauschalen erhöht, die die IV bzw. AHV für Hörgeräte zuzahlt. Bei kaum einem anderen Hilfsmittel müssen so hohe Zuzahlungen getätigt werden. Ein Hörgerät darf kein Privileg für finanziell besser Gestellte sein!
Jolanda Galbier: Ganz genau. Menschen mit Schwerhörigkeit haben in den letzten Jahren immer mehr selbst für ihre Hörgeräte aufkommen müssen – die Zuzahlungen haben sich teilweise verdoppelt. Bei zwei Hörgeräten liegen sie durchschnittlich bei CHF 3’721.*
Noch ein Schlusswort?
Heike Zimmermann: Wir möchten Menschen mit Schwerhörigkeit ermutigen, nicht die Faust im Sack zu machen, sondern aktiv ihre Rechte einzufordern. Dass die Höranlagen funktionieren, dass Schriftdolmetschen angeboten wird etc.. Nur so haben wir eine Chance, dass irgendwann das Bewusstsein dafür entsteht – auch in der Gesellschaft – was es braucht, damit Menschen mit Schwerhörigkeit teilhaben können.
Übrigens: Das komplette Interview können Sie im aktuellen Dezibel nachlesen.
*«Analyse der Preise und der Qualität in der Hörgeräteversorgung» (Braun-Dubler et al., 2020)